Lesebrobe: Das Blutende Herz – Religion der Strasse


Hartwig Weber

Das Blutende Herz

Religion der Strasse


Inhalt

  1. Vorwort
  2. Das Buch der toten Kinder
  3. Marcelas Sehnsucht nach Freiheit
  4. Straßenkinder in der öffentlichen Wahrnehmung
  5. Die Hoffnung stirbt zuletzt – Leben und Glauben auf der Straße
  6. Krieg dem Krieg. Zur politischen Situation in Kolumbien
  7. »Bei uns zu Hause wartet der Tod vor der Tür.«
  8. Kolumbien, ein katholisches Land
  9. Die Verehrung der Armen Seelen
  10. Von Hexen, Heilern und Wahrsagern
  11. Alltagsmoral und Gebrauchsethik
  12. Menschenmüll
  13. Endstation Straße
  14. Was bleibt, ist Religion
  15. Marcela zwischen Hoffnung und Resignation
  16. Glossar

Vorwort

Wer heiraten und einen Hausstand gründen will, braucht Möbel, zumindest ein Schlafzimmer, während man auf Tische und Stühle noch eine Weile verzichten kann. In diesem Punkt sind sich Marcela und Andrés einig. Nach Jahrzehnten auf der Straße ist ihnen, durch die Hilfe seiner Familie, endlich der Absprung gelungen. Und nun werden sie, mit einem kräftigen finanziellen Zuschuss von Andrés’ Mutter, in eine kleine Wohnung in San Pedro, ein abgelegenes Dorf, einziehen. Anderthalb Stunden dauert die Fahrt mit dem Überlandbus von Medellín, der kolumbianischen Millionenstadt, dorthin. Rechtzeitig vor der Hochzeit werden sie bei einem Schreiner Möbel bestellen, die dieser von Hand anfertigen und einige Tage vor dem Einzug in ihr erstes eigenes Domizil bringen wird. Er wird das Mobiliar in seiner Werkstatt zerlegen und die Einzelteile auf einer Karre stapeln, die auf zwei Gummirädern läuft und an einer kurzen Deichsel gezogen wird. Zur üblichen Grundausstattung eines Schlafzimmers gehört neben Doppelbett, Kleiderschrank und Nachttisch auch ein großes, hochformatiges Bild, dessen brauner, mit glänzendem Lack überzogener Rahmen aus demselben Holz wie das Möbel gefertigt ist. Der Schreiner wird das Kunstwerk mit der Bildseite nach außen sorgfältig zwischen den anderen Holzteilen auf dem Karren verkanten und mit Kartons schützen, damit es den Ort seiner Bestimmung, die Wand an der Kopfseite des Bettes, unbeschadet erreicht. Es zeigt einen jungen Mann mit gepflegtem Bart, dessen braunes Haupthaar sanft gewellt auf die Schultern fällt. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, wirkt der nachdenkliche Blick seiner dunklen Augen verträumt und ein bisschen melancholisch. Jeder kennt den Abgebildeten, ohne dass es dafür einer Bildbeschriftung bedürfte. Sein Bild ist als billiger Druck in allen Größen von den Straßenhändlern zu beziehen, die ihre Waren überall in der Stadt an den eisernen Geländern der Treppenaufgänge zu den Metrostationen aufgehängt haben: Es ist Jesus Christus, der eingeborene Sohn Gottes. Mit drei Fingern der rechten Hand weist er auf seine Brust, wo eine Art Sichtfenster in den Körper eingelassen ist, das den Blick auf ein stilisiertes Herz freigibt, das rot leuchtet und Spuren von strömendem Blut aufweist. Das Herz des Heilands, Personzentrum und Mitte seines Ichs, ist das eindrucksvollste Symbol des lateinamerikanischen Katholizismus, zumal in Kolumbien – Zeichen des Schmerzes, Mitleides und göttlichen Erbarmens. Dieses populärste aller frommen Bilder, das für die Zuwendung und Nähe Gottes zur geschundenen Kreatur steht, ist Identifikationssymbol des religiösen Verlangens und der Zuversicht in diesem Land. Im Jahr  weihte Papst Leo XIII. die ganze Welt diesem »glückverheißenden göttlichen Zeichen«. Dessen Bedeutung war bereits der französischen Salesianernonne Margareta Maria Alacoque im . Jahrhundert aufgegangen, deren Visionen um die Fragen von Schuld und Sühne kreisten. Der Herz-Jesu-Kult, der die ältere Herz-Mariae-Verehrung abgelöst hat, blühte im Europa des . Jahrhunderts auf und erreichte vor dem Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt, zumal ihm mehrere Päpste Ablässe gewährten. In Kolumbien ist seine Popularität bis heute ungebrochen.

  1.  Vgl. Norbert Busch: Katholische Frömmigkeit und Moderne. Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Herz-Jesu-Kultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, Gütersloh 1997

Das offene Herz Jesu, »dieses Opfer der brennendsten Liebe gegen uns«, steht für eine Religiosität, die das eigene Elend im Leiden des Gottessohnes gespiegelt sieht, dessen erdrückendes Kreuz auf Gemälden und Skulpturen nicht schwer genug, dessen Folterstriemen nicht tief genug und dessen Wunden nicht blutig genug dargestellt werden können. Der exzessive Ausdruck seiner Qual unterstreicht die bedingungslose Hingabe des Herrn, des reinen, sündlosen Opferlammes, dessen Pein seine Unschuld kontrastiert wie die Ungerechtigkeit der Welt die Erwartungen und Wünsche der Menschen. Träger der Herz-Jesu-Verehrung, dieser weithin privaten, individuellen, expressiven und emotionalen Frömmigkeit, sind bis heute das einfache kolumbianische Volk und insbesondere diejenigen Menschen, die unter Not und Entbehrung leiden. An extreme Lebenssituationen leicht adaptierbar, schafft sich dieser Kult, für den der Gebrauch von Devotionalien, religiösen Bildern, Skapulieren und Rosenkränzen typisch ist, sowie die Offenheit für Wunder aller Art und magischen Aberglauben, gerade auf der Straße Raum. Dort hilft die Herz-Jesu-Verehrung, eine bedrohliche und feindliche Welt zu ertragen, indem sie existentielle Angst objektiviert und den Menschen erlaubt, das eigene Leid durch die stellvertretende Pein des Gottessohnes distanziert zu betrachten. Während der Versenkung ins Mysterium des unschuldig vergossenen Blutes des Herrn macht das Mitleid mit dem fremden Elend das eigene etwas leichter, zumal dem Gläubigen die christliche Verheißung zukünftigen Ausgleichs vor Augen steht. Der Herz-Jesu-Kult stärkt eine defensive Mentalität, die unter den gegebenen Lebensbedingungen die einzig angebrachte sein dürfte, und erlaubt den Rückzug in eine geschützte Glaubenswelt, welche die Ablehnung, ja Verdammung der ängstigenden und aggressiven Welt impliziert. Wo die eigenen Kräfte versagen, muss Besserung von außen kommen – und sei es aus dem Jenseits. In der am blutenden Herzen Jesu orientierten Frömmigkeit spiegelt sich die mentale Befindlichkeit der Straßenbewohner mit ihrer depressiven und defensiven Grundhaltung. Hier kann Religion letzte Hoffnung sein und verhaltene Zuversicht schenken. In diesem Buch werden Religion und Religiosität von Menschen beschrieben, die auf der Straße leben. Zu ihnen gehört Marcela, die junge Frau, deren Lebenslauf wir seit fünf Jahren begleiten und die wir bereits in dem Buch »Narben auf meiner Haut« vorgestellt haben. Hier nun wird ihr weiteres Schicksal beschrieben. Einleitend geht es um die allzu geringe Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit für das Thema der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen auf der Straße – ein Phänomen, das inzwischen weltweit verbreitet ist. Immer wieder Bezug nehmend auf die Biographie Marcelas, schildern wir eigene Erfahrungen und Probleme beim Versuch der Annäherung an die Lebenswirklichkeit der Straße, die hier vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage Kolumbiens beschrieben wird, eines Landes, das seit seiner Gründung so gut wie nie friedliche Zeiten erlebt hat. Es ist die permanente und bedrückende Nähe zum Tod, welche die Überzeugungen und Handlungen der Menschen auf der Straße bestimmt. Die Beschäftigung mit ihren Glaubensvorstellungen, ihren Hoffnungen und religiösen Handlungen erschließt eine uns weithin fremde Welt und zeigt dabei, wie sich Religion in extremen Lebenslagen darstellt, welchen Wert sie hat und welche Wirkungen von ihr ausgehen.

Gleisweiler und Medellín, im April 2006
Hartwig Weber und Sor Sara Sierra

  • Gebundene Ausgabe: 212 Seiten
  • Verlag: Edition Büchergilde; Auflage: 1 (1. September 2006)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3936428654
  • ISBN-13: 978-3936428650

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